«Hunger ist kein Schicksal, sondern eine Aufgabe, der wir uns stellen müssen.»

Stephan Jütte, Dr. theol., ist Leiter Theologie und Ethik der evangelisch-reformierten Kirche (EKS). In seinen Augen geht es nie um Moralpredigten, sondern um Haltung und Handlung.

Veränderung braucht Empathie, nicht Schuldgefühle 

Früher war Hunger oft ein unausweichliches Schicksal. Missernten, Wetterextreme und Krankheiten bestimmten, ob Menschen genug zu essen hatten. Heute hingegen entsteht Hunger nicht mehr durch Naturereignisse, sondern durch menschliches Handeln – eine Tatsache, die schwer zu akzeptieren ist, sagt Stephan Jütte, Leiter Theologie und Ethik der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. 

Es gibt genug Nahrung auf der Welt. Doch Millionen Tonnen werden verschwendet, zweckentfremdet oder durch Spekulation künstlich verteuert. Das Problem ist nicht die Produktion, sondern ein Wirtschaftssystem, das Profite über Grundbedürfnisse stellt. Und doch wird suggeriert, jeder Einzelne trage die Verantwortung. 

Empörung ist der falsche Motivator 

Die moralische Empörung über Hunger und Umweltzerstörung lenkt oft von den eigentlichen Verursachern ab. Ölkonzerne veröffentlichen CO₂-Tabellen – nicht aus Reue, so Jütte, sondern weil damit der Fokus auf uns umgelegt wird. Wir geben uns selbst die Schuld. Wir fahren Autos, fliegen in den Urlaub – also fühlen wir uns verantwortlich, während die grossen Konzerne im Windschatten der internationalen Politik ungestört weiterwirtschaften. 

Das bedeutet nicht, dass wir sorglos konsumieren sollen, sagt der Theologe und Ethiker weiter. Aber unser Handeln sollte nicht aus Schuldgefühlen, sondern aus Überzeugung entstehen. Nachhaltigkeit muss eine bewusste Entscheidung sein, nicht eine auferlegte Busse. 

Bewusst geniessen statt verschwenden 

Jütte lebt diese Haltung auch in seiner Familie. Seine Kinder lernen den Wert von Lebensmitteln nicht durch Verbote, sondern durch Erlebnisse: das Probieren einer Beere auf dem Markt, den Duft von frisch gebackenem Brot, das Wursträdli beim Metzger. Wer eine Verbindung zu Lebensmitteln hat, geht achtsamer mit ihnen um – und wirft sie nicht leichtfertig weg. 

Foodwaste ist nicht „uncool“, weil es moralisch verwerflich ist, sondern weil es Ressourcen verschwendet. Doch die Verantwortung dafür kann nicht allein auf die Konsumenten abgewälzt werden. Wenn im Supermarkt zwei Flaschen Cola günstiger sind als ein Huhn oder ein Flug nach New York weniger kostet als eine Bahnfahrt nach München, liegt das Problem im System – nicht beim Einzelnen. 

Wirkliche Veränderung beginnt woanders 

Natürlich sollten auch Kinder lernen, bewusste Konsumentscheidungen zu treffen, meint der Familienvater entschieden. Aber nicht aus Angst oder moralischem Druck, sondern aus Einsicht. Denn Veränderung entsteht nicht durch Schuldzuweisungen, sondern durch Empathie – für sich selbst, für andere und für die Welt. 

Letztlich reicht es nicht, nur nachhaltiger einzukaufen. Für Stephan Jütte ist klar: wirklicher Wandel passiert nicht im Supermarkt, sondern an der Urne.