«Es braucht mehr Ehrlichkeit, mehr Mut und mehr Geld»
Fast alle Nachhaltigkeitsziele der Uno sind nicht auf Kurs: Der Hunger nimmt ebenso zu wie die Armut. Eva Schmassmann, Leiterin der Schweizer Koordinationsstelle der Plattform Agenda 2030, erklärt, woran das liegt, und was getan werden müsste.
Eva Schmassmann, du hast vor kurzem vom Bundesrat mehr Engagement für die Nachhaltigkeitsziele der Uno (kurz SDG) gefordert. Weshalb?
Weil die Schweiz nicht auf Kurs ist – wie viele andere Länder auch. Es gibt ausser uns auch niemanden in der Schweiz, der den Blick gesamthaft auf die Nachhaltigkeitsziele wirft. Dabei bräuchte es dringend mehr Transparenz und Ehrlichkeit.
Zum Beispiel sind die Berichte der Verwaltung teilweise nicht vollständig: Im Länderbericht 2022 etwa hat man beim Ziel 6 (sauberes Trinkwasser) nur ins Inland geschaut und den Wasserfussabdruck im Ausland durch Importe völlig ausser Acht gelassen.
Wie steht es beim Ziel 2 – «Kein Hunger»?
Schlecht. Nicht nur verfehlen wir die Ziele, es gibt sogar Rückschritte. Wie auch beim Ziel 1, der Bekämpfung der globalen Armut. Beides nimmt zu. Was wiederum nicht überrascht, denn diese Ziele sind verbunden: Wo das Geld fehlt, steigen auch Hunger und Unterernährung. Dabei wäre eigentlich klar, was zu tun ist.
Nämlich was?
Funktionieren kann es nur, wenn alle Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, also Umwelt, Soziales und Wirtschaft. Das Ziel 2 ist nicht nur eines der wichtigsten, es formuliert auch sehr sorgfältig und vollständig, was sich ändern muss. Es geht um Zugang zu Nahrung, aber auch um Bodenqualität und die Arbeitsbedingungen von Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten.
Frauen werden explizit erwähnt, auch die wichtige Rolle von Kleinbäuerinnen wird gewürdigt, die entscheidend sind für die Nahrungsmittelproduktion, aber kaum mitbestimmen dürfen.
Was kann die Schweiz dazu beitragen?
Unsere grösste Herausforderung ist es, das Ernährungssystem zu demokratisieren und Abhängigkeiten zu reduzieren. Zum Beispiel sollten keine Patente auf Pflanzen anerkannt werden, welche mittels konventioneller Züchtung gewonnen wurden.
Dieses Wissen gehört allen. Auch müssen die Subventionen in der Landwirtschaft reformiert werden, die oft noch immer falsche finanzielle Anreize setzen und so nicht nachhaltige Produktion fördern. Stattdessen müssten wir weniger und nachhaltiger produziertes Fleisch konsumieren, die Massentierhaltung reduzieren und weniger Tierfutter importieren, um nur einige Themen zu nennen.
Und was kann die Schweiz global verändern?
Mehr als es auf den ersten Blick scheint, denn in der Schweiz sind viele grosse globale Akteure ansässig, zum Beispiel im Handel und in der Düngemittelproduktion. Mindestens die Hälfte des weltweit gehandelten Getreides und jede dritte Kaffeebohne wird über die Schweiz gehandelt.
Nestlé als weltgrösster Nahrungsmittelkonzern hat ihren Sitz in der Schweiz. Mit OCP (Office Chérifien des Phosphates) vertreibt der weltweit wichtigste Anbieter von Phosphaten seine Dünger über ein Schweizer Tochterunternehmen. Und mit Syngenta hat einer der grössten Konzerne für Pestizide und Saatgut seinen Sitz in der Schweiz. Auch hier geht es darum, gute und nachhaltige Dinge zu produzieren, die global wirken und keine neuen Abhängigkeiten schaffen. Auch sollten wir sicherstellen, dass hier aktive Unternehmen überall die Menschenrechte und die Menschwürde respektieren.
Was braucht es, um die Nachhaltigkeitsziele zu verwirklichen?
Ein neues Bekenntnis zur Demokratie, die Inklusion aller Bevölkerungsgruppen, ein faires Handelssystem – und viel Geld. Die Schweiz ist weit entfernt vom offiziellen Uno-Ziel, 0.7 Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Hier braucht es auch in der Politik mehr Mut, für diese Ziele einzustehen.